Böll & Trakl

ARTus-Kolumne „SO GESEHEN“ Nr. 474

Auf Gedichte Georg Trakls hat mich um 1970 der Leipziger Maler Hans Schulze (1904-1982) aufmerksam gemacht. Der als Honorarprofessor für Kunst an der Leipziger Universität wirkende Schulze war Schüler von Alexander Kanoldt (1881 – 1939) und schuf zu Beginn der 70er Jahre herrlich versponnene Ätzradierungen zu Versen des mir bis dato noch unbekannten österreichischen Lyrikers, der, viel zu jung, die Gräuel des Krieges nicht aushaltend, 1914 Selbstmord beging.

Grafiken und Verse schienen mir ein Spiegel auch meiner Zeit und doch… wie von einem anderen Stern. Die Arbeiten  Schulzes bedienten nicht ansatzweise den Kanon des öffentlich wahrgenommenen Erscheinungsbildes von Kunst in der DDR und Trakl-Gedichte wurden in der DDR (noch) nicht verlegt. 1972 konnte ich die Trakl-Grafiken von Schulze in der gerade erst gegründeten Kleinen Galerie des Bergener Kulturhauses ausstellen. Ein Novum! Wer kannte auf Rügen Hans Schulze und wer den Dichter Georg Trakl?

Im Dezember 1972 platzte die Nachricht herein, dass Heinrich Böll zum Nobelpreisträger für Literatur erkoren worden sei. Nicht zuletzt eines Romanes wegen, der 1971 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln erschien und „Gruppenbild mit Dame“ hieß. Im Roman war auch die Rede von Trakl. Ich musste den Roman haben! Meine couragierte Tante aus Hamburg übernahm den illegalen Buchtransport per Zug über die innerdeutsche Grenze anlässlich einer Besuchsreise zu meiner Mutter. Aus ihrer Handtasche zauberte sie mit einem Siegerlächeln das mir zugedachte „Gruppenbild mit Dame“. Das Buch förderte Überraschendes zu tage. Ich stieß auf eben jenes Trakl-Zitat, das auch Schulze genutzt hatte: „Der Ahnen Marmor ist ergraut“. Die Verszeile stammt aus dem Gedicht „Musik im Mirabell“. Das aber habe ich erst 1975 erfahren, durch die dann doch noch in der DDR bei Reclam Leipzig (!) publizierte Trakl-Werk-Auswahl von Franz Fühmann.

Drei Jahre später sollte sie zur Grundlage meiner Diplomarbeit werden, die ich mit einem Illustrationsband zu Gedichten Trakls abschloss.

Auf welches Exemplar aber konnte sich Bölls Romanfigur Leni Pfeiffer stützen, die sich während des Zweiten Weltkrieges in den sowjetischen Kriegsgefangenen Boris L. Koltowski verliebte, von dem sie ein Kind erwartete, „der Trakl im Kopf hatte“ und der sie, weil nicht anders vorstellbar, zu einer anderen Vaterschaftsangabe beschwor. Es fiel ihm der tote Dichter mit dem deutschen Namen ein.

Vielleicht war es das „kleine Bändchen Gedichte“, das 1913 im Kurt Wolff Verlag Leipzig erschien, das „Musik im Mirabell“, „Die schöne Stadt“ und „Die junge Magd“ enthielt und aus dem Böll seine Leni im Roman „jeden, jeden Abend“ vorlesen lässt.

Gut möglich, dass so gesehen Böll die längst überfällige DDR-Trakl-Rezeption mit befördern half.   ARTus

Vor 15 Jahren, am 16. Juli 1985 starb der Schriftsteller und Nobelpreisträger für Literatur Heinrich Böll.

Erscheint  am Sonnabend in der Ostsee-Zeitung Rügen in der Kolumne „So gesehen“ von ARTus alias Walter G. Goes, der als Künstler und Autor in Bergen/ Rügen lebt.