Cabaret Voltaire
ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 506
Am 26. Februar, vor genau 95 Jahren, notierte der in Pirmasens geborene und seit Mai 1915 im Schweizer Exil lebende Hugo Ball, der Spiritus Rector von DADA-Zürich und Gründer des legendären »Cabaret Voltaire«: »Ein undefinierbarer Rausch hat sich aller bemächtigt. Das kleine Kabarett droht aus den Fugen zu gehen und wird zum Tummelplatz verrückter Emotionen.«
Was war passiert? Nur wenige Wochen vor seinem 30. Geburtstag gründete der Journalist und Kunstaktivist Hugo Ball zusammen mit seiner Freundin Emmy Hennings ein Kabarett, das außer eigenen Auftritten auch »musikalische und rezitatorische Vorträge der als Gäste verkehrender Künstler« im Programm bot. Eine Pressenotiz vom 2. Februar 1916 verstand sich als Einladung »an die junge Künstlerschaft Zürichs … sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden.«
Nur einen Tag später sei nach Ball die Lokalität in der Spiegelgasse 1 hoffnungslos überfüllt gewesen. Viele Besucher hätten keinen Platz mehr finden können. Es erschienen die Rumänen Marcel Janco und Tristan Tzara sowie Hans Arp (der wenige Jahre später mit Kurt Schwitters und Hannah Höch Rügen besuchen wird!). Man rezitierte Verse von Kandinsky und Else Lasker-Schüler, von Werfel und Morgenstern, auch das »Donnerwetterlied« von Wedekind und das 1911 entstandene, bis heute viel zitierte »Weltende«-Gedicht des Jacob van Hoddis, dessen Déjà-vue-Worte uns so gesehen noch heute erschrecken: »Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei. / Dachdecker stürzen ab und gehn entzweih, / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut. // Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. / Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. / Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.«
Als am 11. Februar auch noch Richard Huelsenbeck im Kabarett auftaucht, ist der Sturm tatsächlich da. Am liebsten möchte Huelsenbeck »die Literatur in Grund und Boden trommeln.«(Ball)
Das nervt die braven Biedermann-Bürger. Ihre Beschwerden führen zur Schließung des Kabaretts, können aber nicht dessen furiose Aktivitäten vergessen machen.
Nach Ball ist es »… dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen… uns Respekt abzunötigen. Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre Kanonen? Unsere große Trommel übertönt sie. Ihr Idealismus? Er ist längst zum Gelächter geworden, in seiner populären und seiner akademischen Ausgabe. Die grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen Heldentaten? Unsere freiwillige Torheit, unsere Begeisterung für die Illusion wird sie zuschanden machen.«
DADA-Zürich bot Skandal in skandalöser Zeit, auch Heiterkeit, nicht zu vergessen den Ernst und jede Menge Stuss. Dafür (m)einen Künstlerkuss! ARTus