Der Herbst kommt
ARTus-Kolumne »So gesehen« Nr.539
Nun kommt er nach einer hochsommerlichen Frühgeburt wirklich und mit aller Gewalt: der Herbst. Es gibt kostbare Dichtungen über ihn. Sehr gegenwärtige. Sehr aktuelle, wie die des gerade zum Nobelpreisträger für Literatur gekrönten Tomas Tranströmer aus Schweden, der in einer »Skizze im Oktober« als Gedicht über »wilde Farben« der Bäume spricht, oder an anderer Stelle über »einen raschelnden goldbraunen Laubzweig«. Die Welt sei voll »von an Land gebliebenem Ungeheuerlichem«, das Tranströmer liebt, aus dem er seit 1954 seine kostbaren Dichtungen »zwischen Traum und Wachen« schöpft.
Ich meinerseits liebe und verweise gern auch auf frühe Dichtungen, auf Texte, die noch heute durch ihren anschaulichen Bilderkosmos aufmerken lassen und geradezu bezaubernd in ihrer längst verklungen Lautsprache wirken: »De boyme sint ghe cleydit. / den voghelin be reydit«; als ein Kuss noch »eyn cusselin« hieß und das Einfallen des Herbstes mit der Überschrift »Der herbst kumpt« versehen wurde. Da poltert und kracht es wortwörtlich! Die Texte waren so nah am Leben!
Einer der letzten Minnesänger (war es wirklich der spätere Fürst Wizlaw III. von Rügen, der zwischen 1265 und 1325 lebte?) schrieb um 1300 das erwähnte Titel-Herbstgedicht. Ich lese es mit Freuden. Des besseren Verstehens wegen hier in einer Nachdichtung von Dr. Lothar Jahn in Teilen zitiert: »Der Herbst kommt nun und zeigt seine Macht. / Lockt mit Glanz und Reichtum und Pracht / Macht, dass uns das Herze so lacht, / Will, dass wir uns laben! / Bier, Met und auch der prächtige Wein, / Rinder, Gänse, Kälber und Schwein’, / Auch die Hühner bruzzeln gar fein, / Jeder soll was haben! Das, was hier gewachsen ist, / Ist für alle, dass ihr’s wisst…«
Ein Fürst mit sozialem Gewissen? Zumindest ein Mann, der sich ganz besonders der Dichtung verschrieb und so gesehen wenigstens in der Literaturgeschichte Fuß fasste, sich unvergesslich machte. Wenig wissen wir über sein Leben. Wie der dichtende Sänger wirklich ausgesehen hat, verlor sich völlig im Dunkel der Geschichte. Sein literarischer Lehrmeister soll ein Magister Ungelarte (ein »umherziehender Literat«) gewesen sein, der um 1300 in Stralsund wirkte. Wizlaws Liedtexte dürften, wenn sie denn von ihm sind, vor seinem Regierungsantritt entstanden sein, also vor 1302 und damit seiner ersten Frau Margareta gegolten haben. Von Wizlaw III. sind 14 Lieder und 13 Sprüche überliefert. Sie fanden sich als Nachtrag in der berühmten, um 1330 angefertigten Jenaer Liederhandschrift.
Am 10. Oktober um 19.30 Uhr sollten sich Literatur- und Geschichtsinteressierte im Gemeindehaus der Kirchgemeinde St. Marien in der Bergener Billrothstr. 1 einfinden. Dörthe Buchhester und Dr. Mario Müller werden dort den Versuch unternehmen, die sagenumwobene Identität von Wizlaw III. zu klären, den viele Fürst und Minnesänger nennen. Zu Recht? ARTus