Der sich Wandelnde
ARTus-Kolumne »So gesehen« Nr. 553
Von Walter G. Goes (Bergen / Rügen)
Am 4. Juni 1984, fünf Wochen vor seinem Tod, las der Schriftsteller Franz Fühmann seinen Traum vom Wassertheater, einen Text, den ich dieser Tage nicht ohne Ergriffenheit nachlese: »… Neben mir hatte jemand Platz genommen, ich sah ihn nicht und spürte ihn nicht, und fühlte ihn doch bei mir sitzen, und die Gondeln rings trieben schweigend hinaus, das Spiel war zu Ende, der Vorhang gefallen, der Himmel sank auf das Wasser nieder, und da stieß auch meine Gondel ab, lautlos, einsam, nur ich und der Andre, glitt hinaus ins nachtblaue Schweigen, und von einem Glück ohnegleichen durchströmt, in stillster, in sich geschwellter Verzückung, begriff ich, dass der Tod mich fuhr.«
Fast hätte er ihn, verblendet vom Geschwafel der braunen Machthaber und Mitläufer -Fühmann ist Jahrgang 1922 – selbst herausgefordert. Mit 16 Jahren ist er dem SA-Reitersturm beigetreten, mit 17 hat er sich als Freiwilliger der Wehrmacht angedient. Eingezogen wird er zum Reichsarbeitsdienst nach Ostpreußen. Er wird einer Fahrradkompanie zugeteilt, die an der Memel Sand schaufelt. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion wird er als Fernschreiber in Kiew eingesetzt, dann versetzt nach Poltawa, wo er dem Tod erstmals direkt ins Auge sieht. Er wird Zeuge einer Exekution. In Athen dient er der Wehrmacht als Luftwaffenvermittler. Der Tod ist fern und rückt doch immer näher.
Erste Gedichte, die der Vater von der Front in Durchschriften erhält, vermittelt dieser weiter. Sie erscheinen in der Reihe Das Gedicht beim »nobelkonservativen« Verleger Ellermann in Hamburg und, man glaubt es kaum, in Goebbels NS-Wochenzeitschrift Das Reich. Noch am 28. Januar 1945 titelt eine der letzten Nummern mit dem Fühmann-Gedicht »Das Maß«.
Fühmann soll, so Gunnar Decker in seiner bei Hinstorff Rostock erschienenen überaus faktenreichen Fühmann-Biografie von 2009, »die wohlklingende Musik zum elenden Verrecken machen, … die schwarze Melancholie derer spiegeln, die längst verspielt haben.« Der Tod erscheint als lässliche Marginalie, über den »Menschen wandeln, / Menschen leben, / ihre heiligsten Pflichten erfüllen«.
Fühmann, der von den Mächtigen als junger Dichter in Dienst genommen wurde, lässt sich auch nach Kriegsende und Gefangenschaft von den neuen Machthabern der anderen Diktatur in Dienst nehmen. Er glaubt an das »strahlende helle, ungetrübte Morgenrot«, wird Funktionär und Dichter, scheitert.
Er läutert sich schreibend, wird so gesehen über Jahre unter Schmerzen »der Wahrheit nachsinnen«, mutig Haltung und Widerstand zeigen, anschreiben gegen Dünkel, Dummheit und Doktrin. Fühmann wird krank am Unvermögen der Gesellschaft sich zu wandeln, muss gegen den eigenen Krebs ankämpfen, verliert sein Leben an den Tod. Lebendig bleibt er in seinen Worten. Er hinterlässt Bücher, die zum erschütternden Zeugnis seiner Wandlungen wurden und eindrucksvoll die Verwerfungen unserer Zeit spiegeln. ARTus