Die Fackel im Ohr

ARTus-Kolumne „SO GESEHEN“ Nr. 475

Am 25. Juli 1905 wurde Elias Canetti geboren. Der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1981 zählt zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts.

Es mag vom Inhalt her bedeutendere Bücher von Canetti geben: Masse und Macht etwa, mit dem Canetti sich 35 lange Jahre beschäftigte, ehe er es endlich 1960 zum Druck frei gab. Man könnte seinen Erstling Die Blendung nennen, „ein Buch von gigantischer Struktur“, das 1935 unter eine im deutschsprachigen Raum erschreckend verblendete Leserschaft geriet und das erst nach dem Inferno des Zweiten Weltkrieges für Furor sorgte.

Mein Canetti-Buch ist seit nunmehr 30 Jahren Die Fackel im Ohr. Ein Buch aus einer auf fünf Bände angelegten Reihe, die Canettis imposante Lebensgeschichte spiegelt und als zweiter Band auf seine Berlin-Aufenthalte am Ende der zwanziger Jahre verweist. 1980 erschien es bei Hanser in München, in der DDR übrigens ein Jahr später.

Die Herausgabe der Ostausgabe fiel in die Zeit meiner intensiven Berlin-Besuche bei Wieland Herzfelde, dem einstigen MALIK-Verleger und Bruder des legendären Fotomonteurs John Heartfield. Herzfelde war, so schien mir, er selbst hat es mir gegenüber mehrfach bekundet, einer der letzten Protagonisten einer Ära, welche die Weltgeschichte durcheinander wirbelte, so wie es die aufmüpfigen Kunst-DADAisten, zu deren herausragenden Berliner Köpfen Herzfelde zählte, mit rabiaten Worten und skandalösen Bühnenauftritten europaweit praktizierten. Und dies mit der Zeichenfeder als Skalpell, dem Pinsel als Farbkanone und der Kamera als sezierender Zeitmaschine, deren Bilder mit Schere, Klebstoff und kritischem Nachdenken bearbeitet wurden. Keineswegs aber war Herzfelde, dessen Worten ich ansonsten sehr vertraute, letzter Zeitzeuge! Es gab da ja noch den in der Schweiz lebenden Canetti! Hatte er nicht im MALIK-Verlag als junger Übersetzter von Büchern Upton Sinclairs gearbeitet?

Die Fackel im Ohr schuf Klarheit. Canettis Berliner Zeit schloss intensive Begegnungen mit Wieland und John, mit Grosz und Brecht ein, so, dass ich aus den Geschichten und dem Staunen darüber sprachlos wurde. Warum aber um alles in der Welt schwieg sich der große Verleger Herzfelde über Canetti aus? Da muss ihm so gesehen irgend etwas peinlich gewesen sein. Er, der wirkliche Talente immer aufzuspüren wusste, hier war er nicht aufmerksam genug. Canettis eigene Passionen hatte er nicht entdeckt. Dabei fand Canetti über Herzfelde sehr treffliche Worte, die mir dessen Wesen in feinsten Nuancen nah brachten. Canetti über Herzfelde: „Er kam Menschen rasch nahe, wie ein Kind, verfiel ihnen aber nicht und löste sich leicht wieder. Man hatte nicht das Gefühl, dass er ganz zu jemand gehörte. Er hätte jederzeit, so schien es einem, auf und davon gehen können. Man hielt ihn für ungebunden und fragte sich, woraus er seine Kraft beziehe. Denn er war immer auf dem Sprung, agil und rege, von keinem überflüssigen Wissen belastet, üblicher Bildung abgeneigt, durch Schnuppern informiert, nicht durch abstrakten Lesefleiß, aber dann, wenn es darum ging, etwas herauszubringen, erstaunlich genau, plötzlich eigensinnig wie ein Alter…«

Canetti, ein Meister der genauen Beobachtung! Ihm wäre ich gern einmal begegnet. Womöglich in der Wohnung Herzfeldes! Vor seinen Grosz-Bildern!

ARTus (Walter G. Goes)

(Erscheint am Sonnabend in der Ostsee-Zeitung Rügen)