Ein Zettl-Blatt
ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 501
Erst auf den zweiten Blick, so gesehen im Rückblick in der Rotunde der Orangerie Putbus, zeigt sich seit dem 22. Januar das fein gestochene, kleine Grafikblatt »Ufer« des seit 2005 in Freiberg/Sachsen lebenden Baldwin Zettl, einem Meister des Kupferstichs seit den 70er Jahren, das die KulturStiftung Rügen mit Bedacht in ihrer ersten Überblicksschau in Putbus aus dem Sammlungsfundus zur Präsentation auswählte. Eine Grafik aus dem Jahr 1980, die unverkennbar mit dem Topos unserer nördlichen Küstenformation aufwartet, dem doch scheinbar nichts Neues mehr abgewonnen werden kann, oder?
Wie ermüdend, wie langweilig können zum Klischee verkommene Künstlersehweisen ausfallen, wäre da nicht die Besonderheit einer künstlerischen Nischensprache, die wie beim Zettl-Blatt in Nutzung der seit etwa 1420 bekannten, ebenso anspruchsvollen wie langwierigen Technik des Kupferstichs Originäres zu leisten vermag und die den aufmerksamen Betrachter unter der Kennerschaft wie den Kunstneuling bannt.
Zettls Erbeaneignung schlägt überraschende Brücken, lässt an große Vorbilder wie Dürer, Cranach und Schongauer denken, dann aber auch an den Görlitzer Johannes Wüsten (1896-1943) und weist im Gesamtkontext weiterer Arbeiten auf seine Leipziger Lehrer hin, unter ihnen auf Rolf Kuhrt und Gerhard Kurt Müller, beide gleichfalls mit Arbeiten in der gegenwärtigen Orangerie-Ausstellung vertreten. In einer schnelllebigen, sich immer wieder mit »Events« brüstenden Zeit, in der sich die Hochglanzoberflächlichkeit bis zur Lächerlichkeit feiert, wird die Beharrung auf Werte, der Ethos der Formdisziplinierung, eine unbedingte Verkürzung auf reine Linearität zum kleinen Wunder.
Welche Strenge! Welche gebannte, ja gleichsam eingefrorene Schönheit erwächst aus diesem überakkurat-surrealen Vortrag. Die Parallelität der Feuersteinbänder, die kleinen Steinpyramiden am schmalen Ufersaum wirken suggestiv und das offene Meer hinter der sich bedrohlich auftürmenden Kreidewand vermittelt Linie um Linie ein seltsam erstarrtes Bewegungsmuster.
»Ich seh mit den Fingern, berühr und versteh«, so der Dichter Paul Eluard über den Kupferstich. Baldwin Zettl sieht mit den Fingern, was andere, müde geworden und abgelenkt durch das vertrackte Gebundensein im Hamsterrad der Zeit nie, nicht mehr oder nur noch sehr selten sehen.
Ulrich Berkes, der Schriftsteller, schrieb Ende der siebziger Jahre über seinen Freund: »Wie ein Künstler sieht er nicht aus in seinen Kordhosen, seinem ausgebeulten Pullover. Vollkommen unmodisch, und das nicht nur im Äußeren.«
Wenn dem heute noch so ist, sollten wir um so mehr dem Anachronismus Gewicht beimessen, sollten wir Außenseiter fern jeder modischen Attitüde feiern, Künstler als Zauberer und Seher, die im Werk aufgehen und nicht in der Banalität reiner Äußerlichkeit. ARTus