Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft

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12tes Blatt    Den 13ten October 1810.

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Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegränzte Wasserwüste, hinauszuschauen. Dazu gehört gleichwohl, daß man dahin gegangen sei, daß man zurück muß, daß man hinüber mögte, daß man es nicht kann, daß mam Alles zum Leben vermißt, und die Stimme des Lebens dennoch im Rauschen der Fluth, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, dem einsamen Geschrei der Vögel, vernimmt. Dazu gehört ein Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, um mich so auszudrücken, den Einem die Natur thut. Dies aber ist vor dem Bilde unmöglich, und das, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nehmlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch, den mir das Bild that; und so ward ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz. Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunct im einsamen Kreis. Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnißvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, als ob es Joungs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlieder weggeschnitten wären. Gleichwohl hat der Mahler Zweifels ohne eine ganz neue Bahn im Felde seiner Kunst gebrochen; und ich bin über[48]zeugt, daß sich, mit seinem Geiste, eine Quadratmeile märkischen Sandes darstellen ließe, mit einem Berberitzenstrauch, worauf sich eine Krähe einsam plustert, und daß dies Bild eine wahrhaft Ossiansche oder Kosegartensche Wirkung thun müßte. Ja, wenn man diese Landschaft mit ihrer eignen Kreide und mit ihrem eigenen Wasser mahlte; so, glaube ich, man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen: das Stärkste, was man, ohne allen Zweifel, zum Lobe für diese Art von Landschaftsmahlerei beibringen kann. – Doch meine eigenen Empfindungen, über dies wunderbare Gemählde, sind zu verworren; daher habe ich mir, ehe ich sie ganz auszusprechen wage, vorgenommen, mich durch die Aeußerungen derer, die paarweise, von Morgen bis Abend, daran vorübergehen, zu belehren.

cb.

[Clemens Brentano (vgl. Erklärung)]

Jubilaeumsausgabe: Heinrich von Kleists Berliner Abendblaetter als e-Post

Am 1.10.2010 jaehrt sich zum zweihundertsten Mal ein fuer die deutsche Literaturgeschichte wie die Geschichte der Publizistik denkwuerdiges Ereignis: Um 17:15 Uhr des 1. Oktobers 1810 Uhr wurde die erste Nummer von Kleists Berliner Abendblaettern ausgeliefert. Denkwuerdig ist dieses Datum, insofern mit ihm Tagesjournalismus und literarische Produktion eine neue, bis dahin unbekannte Verbindung eingehen, die fuer die Literatur des gesamten 19. Jahrhunderts von eminenter Bedeutung sein wird. Denkwuerdig ist dieses Datum aber auch, insofern sich mit ihm eine deutschsprachige Tageszeitung etabliert und so die mediale Vermittlung geschriebener Texte auf einen neuen, in seiner Rasanz die weitere Entwicklung praegenden Zeitrhythmus eingetaktet wird. Kleist haelt diese neue Verbindung und diesen neuen Takt genau sechs Monate durch: Am 30.3.1811 erscheint die letzte Nummer der Berliner Abendblaetter. Die Berliner Abendblaetter sind lange nicht als eine eigenstaendige, zukunftsweisende, innovative, aesthetisch-publizistische Leistung Kleists wahrgenommen werden. In Kleist-Ausgaben war es lange Zeit ueblich, aus dem umfangreichen Textkorpus der Berliner Abendblaetter diejenigen Textelemente herauszuschneiden, als deren Autor eindeutig Kleist selbst zu identifizieren war, um diese Texte dann unter eigens dafuer erfundenen Kategorien (z.B. ‚Anekdoten‘, ‚Kunst- und Weltbetrachtung‘, ‚Berichterstattung und Tageskritik‘, ‚Politische Schriften‘, ‚Redaktionelle Anzeigen und Erklaerungen‘, usw.) zu praesentieren. Bei solch einem Verfahren werden zum einen Texte, die in den Abendblaettern unmittelbar nebeneinander stehen, in einen grossen, den Zusammenhang verstellenden Abstand gebracht; zum anderen werden Texte, deren Publikation auf verschiedene Einzelblaetter verstreut ist, als eine die urspruenglichen Diskontinuitaeten verstellende Einheit praesentiert. Zwar hat es im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Faksimile-Ausgaben der Berliner Abendblaetter gegeben. Doch erst Roland Reuss und Peter Staengle haben die Abendblaetter als eigenstaendiges Werk Kleists aufgefasst und als vollstaendigen Text in ihre Brandenburger Kleist Ausgabe integriert (BKA 7/1 und 7/2, publiziert 1997). Das zweihundertjaehrige Jubilaeum bietet nun einen guten Anlass, die Berliner Abendblaetter erneut im Originalrhythmus der Erstpublikation zu veroeffentlichen und zu lesen, genau um zweihundert Jahre versetzt, vom 1.10.2010 bis zum 30.3.2011. Die Abendblaetter werden diesmal als kostenlose Tageszeitung mit elektronischer Post ausgegeben.

Roland Borgards, Fotis Jannidis Institut für Deutsche Philologie

Universität Würzburg