Herzensbildung

Auch bei den Vorschulkindern der Kita „Am Mühlentor“ in Pasewalk ist „der Caspar“ an diesem Morgen ein großes Thema. Fünf Jungen und sechs Mädchen sitzen an kleinen Holztischen und betrachten Werke des pommerschen Malers, die Angelika Janz auf eine Staffelei stellt. Die 61­ Jährige trägt ein braunes Leinenkleid über einer weißen Leinenhose und eine Bernsteinkette. Rotbraunes Haar, mit Spangen zurückgesteckt, ein zugewandtes, offenes Gesicht.

Sie ermuntert die Kinder, sich eines der Bilder von Caspar David Friedrich auszusuchen und eine eigene Version zu malen. Bjarne hat sich für „Das Eismeer“ entschieden. Der Fünfjährige summt beschwingt Mozarts „Kleine Nachtmusik“ mit, die im Hintergrund spielt, und wirbelt mit seinem Pinsel durch den Tuschkasten. Plötzlich hält er inne und kratzt sich an der Nase: „Hm, Weiß auf Weiß sieht man ja gar nicht … Frau Janz, kann man das Eis auch gelb malen?“

Man kann. Bei Frau Janz kann man das Eis auch grün malen oder rot. Kann eine Katze mit drei Beinen zeichnen, ein Auto, das durch die Luft fliegt, oder einen Caspar David Friedrich ohne Gesicht. «Es gibt kein Nein, denn es gibt nichts Falsches in dem, was Kinder aussprechen», sagt sie.

Ihre Schützlinge sollen selber herausfinden, was „merkwürdig“ ist und das in ihren Ich­Büchern festhalten. Kleine Kunstwerke schlummern in diesen Zeichen­Tagebüchern. Stolz zeigt Bjarne, was er schon gemalt hat: ein orangerotes Spaghetti­Stillleben («Mein Lieblingsessen!»), viele gelb­ braune Kleckse («Eine Giraffe!»), eine schwarze Rakete, gleich daneben ein krakeliges Bündel. Was das ist? Seine Augen blitzen hinter der blau gerahmten Brille. «Das ist Laika, der Weltraumhund.»

Seit acht Jahren vermittelt Angelika Janz Kindern in Kindergärten und Schulen kulturelles Basiswissen. Und etwas, das sie „Herzensbildung“ nennt. Sie lehrt ihre Schützlinge zu fotografieren, Collagen zu machen und Ton­Skulpturen zu formen. Das Unterrichtsfach „Glück“ hat sie auch für sie erfunden. Daneben aber auch mit Förderschülern aus dem Nachbardorf Ferdinandshof ein beklemmendes „Alphabet der Armut“, erarbeitet: Von A wie „arbeitslos sein“, „Angst haben“ und „Arme sterben früher“ bis Z wie „schlechte Zähne haben“ und „zusehen, wie es anderen gut geht“.

Die Uecker­Randow­Region am Stettiner Haff ist einer der ärmsten Landstriche Deutschlands, hier ist jeder Sechste arbeitslos. Wer woanders Arbeit findet, zieht fort. Angelika Janz ist vor mehr als 20 Jahren den umgekehrten Weg gegangen, der Massenflucht entgegen. Die Museumspädagogin und Autorin ließ das Folkwang-Museum in Essen samt Bildungsbürgertum hinter sich und zog mit ihrem Mann hierher zurück, zu den Wurzeln ihrer Familie im ostdeutschen Grenzland. (…)

Für ihre „Graswurzelarbeit“ wurde Janz 2008 mit dem Deutschen Lokalen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet, ihre Kinderakademie schaffte es zweimal unter die hundert nachhaltigsten Projekte in Deutschland. Kämpfen muss sie aber immer noch – um Fördermittel. Jedes Jahr aufs Neue schreibt sie stapelweise „Antragslyrik“. «Die Arbeit mit den Kindern ist wunderbar», sagt sie, «aber die Verwaltung zermürbt mich.» Oft genug geschieht es, dass sie mittendrin ist in einem neuen Projekt, das eingeplante Geld aber doch nicht fließt. Die Kinder im Stich zu lassen kommt für sie nicht infrage. Lieber arbeitet sie ehrenamtlich weiter.

National Geographic, Heft 09 / 2013, S. 20 bis 24