Innenblick von Joyce
ARTus-Kolumne »So gesehen« Nr.556
Auf Lektüre des Jahrhundertschriftstellers James Joyce (1882-1941) mussten Leser in der DDR lange warten. Erst 1977 erschien in der Spektrum-Reihe als Band 103 des Berliner Verlages Volk und Welt, mit einer schönen Einbandgestaltung von Lothar Reher versehen, die Sammlung von Kurzgeschichten Dubliner, die auf weitere Publikationen hoffen ließ. Allerdings sollten noch weitere drei Jahre ins Land gehen, bevor Ulysses, dieser einzigartige, kühne Solitär der literarischen Avantgarde, im Rahmen einer umfänglichen Werk-Ausgabe erscheinen durfte.
Was für Befindlichkeiten und Ängste müssen die tumben DDR-Zensoren als Gralshüter der Wissensvermittlung wohl gehabt haben? Drohte Aufruhr, gar Umsturz? Der stand (noch) nicht zur Debatte. Aber debattieren über Breite und Vielfalt von Literatur, nicht nur über in der DDR verlegte, das wollten deren Bürger schon. Insbesondere dann, wenn in der Sekundärliteratur über offensichtlich inkriminierte Bücher anhaltend parliert wurde.
Ich staunte nicht schlecht, als der Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, bereits ein Jahr vor dem Joyce-Bannbruch, Wieland Herzfeldes frühes Eintreten für den Autor publik machte und eine fast in Vergessenheit geratene Rede des linken Verlegers in den Sammelband Zur Sache – geschrieben und gesprochen zwischen 18 und 80 aufnahm. Herzfelde hatte sie bereits 1934(!) in Moskau gehalten, und zwar auf dem ersten Unionskongress der Sowjetschriftsteller, so gesehen als mutige Replik auf einen Redebeitrag von Karl Radek (1885-1939), damals außenpolitischer Redakteur des Parteiorgans Iswestija, der von der Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit der Joyce-Schriften überzeugt war.
Radek hatte Joyce mit einem Mann verglichen, der durch ein Mikroskop einen Misthaufen filmt.
Herzfelde, der die methodische Herangehensweise von Joyce als aufschlussreiches Experiment zu würdigen verstand, entgegnete: »Man darf dem Künstler das Experimentieren nicht einfach untersagen, auch dann nicht, wenn einem der Wert der Experimente fragwürdig erscheint. Joyce arbeitet mit ungewöhnlichen künstlerischen und intellektuellen Mitteln. Und seine Bemühungen haben Schule gemacht… Der Marxist kann und soll jedes Detail untersuchen – auch die Misthaufen, Genosse Radek, deren es im Kapitalismus wirklich nicht wenige gibt. Er wird dann vielleicht sogar manches entdecken, was mit Joyces Entdeckungen übereinstimmt.«
Radek hat Herzfeldes Rede nicht begriffen und nicht den so aufschlussreichen Innenblick von Joyce, der ihn vielleicht vor der eigenen Blindheit geschützt hätte.
Radek starb nach einem der Moskauer Schauprozesse im Lager Werchneuralsk im Südural. Die genauen Umstände weiß man nicht. Wirklich detaillierte Untersuchungen der Misthaufen Stalins hat es nie gegeben. ARTus