Jan Liefers‘ früher Auftritt

ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« 578

Von Walter G. Goes (Bergen/Rügen)

Wer kennt ihn eigentlich nicht, den skurrilen Rechtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boerne im Tatort aus Münster?

Zugegeben, nicht jeder Bürger ist Fernsehzuschauer, aber unter denen kenne ich kaum einen Tatort-Fan, der diese Figur nicht mag und der mit dieser Rolle den Schauspieler Jan Josef Liefers nicht verbindet. Und doch gibt es eine Welt lange vor dieser Rolle, in der Liefers zum Mitgestalter deutscher Geschichte wurde.

Wer sich nicht erinnern kann, studiere sein 2009 bei Rowohlt publiziertes Buch »Soundtrack meiner Kindheit«, das ich dieser Tage wie im Rausch durchlas. Mit seinen damals fünfundzwanzig Jahren hat er am 4. November 1989 – in nur vier Minuten – auf dem Berliner Alexanderplatz die Strukturen der Geschichte (s)einer Republik, die sich DDR nannte, »was hinten und vorne (und besonders mittig! ARTus) nicht stimmte«, einzig durch Worte in Frage gestellt. In weniger als zwanzig Sätzen, die DDR-Bürger erstaunt, weil unzensiert und zur besten Mittagszeit übertragen, am Fernseher verfolgen konnten. Liefers: »Während dieser Minuten vor dem bis zum Horizont reichenden Menschenmeer versuchte ich nur, einen kühlen Kopf zu behalten und langsam zu sprechen…«

Das zu glauben und an seine Rolle als geschwind parlierender Rechtsmediziner im Tatort zu denken, fällt heute eher schwer.

Liefers Rede auf dem Alexanderplatz, deren Text er in der Nacht zuvor verfasst hatte, war mutig: »… Die vorhandenen Strukturen, die immer wieder übernommenen prinzipiellen Strukturen lassen Erneuerung nicht zu. Deshalb müssen sie zerstört werden. Neue Strukturen müssen wir entwickeln, für einen demokratischen Sozialismus.« Als aus den Rufen »Wir sind das Volk!« ein »Wir sind ein Volk!« wurde, war der »Traum von der Dritten DDR« innerhalb weniger Tage auch für Jan Liefers ausgeträumt. Dieser Traum »wurde von der stampfenden Zeit überholt und landete in der großen Truhe bei all den anderen ausrangierten Träumen der letzten Jahrhunderte.«

Erinnerungen, so endet der Abspann seines Buches, »sind Gäste, die auf jeder Hochzeit tanzen. Sie kommen immer, wenn man sie braucht. Eine süßsaure Nachspeise, die mit Vorsicht zu genießen ist. Trotzdem hängen wir an ihnen. Sind Erinnerungen etwas, das man besitzt oder das man verloren hat?, fragte sich Woody Allen. Vielleicht sind sie eine andere Art, über die Gegenwart zu sprechen.« ARTus

Der Schauspieler Jan Josef Liefers, vor einem Monat auf Rügen zu Gast, sprach 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Zeichnung: ARTus