Leben im Unbehausten

ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 508

Gedanken anlässlich des 45. Todestages der Dichterin Anna Achmatowa.

In einem Widmungsgedicht an Anna Achmatowa der Marina Zwetajewa (1892-1941) des Jahres 1915 liest man von der Magie ihrer Verse: »Frei sind Sie aller Welt, / Zaubern und setzen hinzu.« Marina Zwetajewa spricht von Versen, die das Herz behält, die waffenlos treffen, »per Du«.

In einem Brief an die verehrte Dichter-Schwester bittet sie um eine Widmung in den gerade erworbenen, im Jahr 1921 in Berlin erschienenen Band Wegerich: »Glauben Sie nicht, dass ich hinter Autogrammen her bin – wie viel signierte Bücher habe ich nicht schon verschenkt! – ich bin respektlos und hebe nichts auf, doch Ihre Bücher nehme ich mit in den Sarg – unters Kopfkissen!«

Ich hätte 1976, zehn Jahre nach dem Tod von Anna Achmatowa, während eines Studentenaustauschs in St. Petersburg (damals Leningrad), ihren signierten Band »Aus sechs Büchern«, der völlig unerwartet 1940(!) erschien, erwerben können. Ausgerechnet den Gedichtband, um den sich Verehrer ihrer Dichtkunst – nach fast 20 Jahren Publikationsverbot in der Sowjetunion – vor den Geschäften prügelten…

Ich zauderte dummerweise, da nach dem Erwerb einer Majakowski-Ausgabe von 1931 meine Rubel knapp wurden und ich »unbedingt« noch eine Pelzkappe kaufen wollte, die man mir drei Tage später klaute. Der rare Band war tags darauf aus dem Antiquariat verschwunden, mithin verkauft worden. Bis heute verfolgt mich meine grandios falsche Prioritätensetzung.

Ich hielt mich an die mir zugänglichen, in der DDR erschienenen Achmatowa-Ausgaben. Als Schatz erwies sich der zweisprachige Gedichte-Auswahlband »Ein niedagewesener Herbst«, der den furiosen Auftakt der heute gesuchten Weißen Lyrikreihe des Ostberliner Verlages Volk & Welt des Jahres 1967 bildete. Er war mit einer Vignette des Berliner Zeichners Horst Hussel versehen und der Wiedergabe einer Zeichnung von Amadeo Modigliani, der die junge Russin in Paris 1911 kennengelernt und leidenschaftlich als Muse umworben hatte. Er hatte sie als Sphinx – mit wenigen Strichen – prägnant getroffen.

Betroffen machte allerdings die im Anhang des Bandes wiedergegebene »Kurze Autobiographie« die noch 1965(!) aussparen musste, was so gesehen Jahrzehnte das Leben der Dichterin umschattete. Kein Wort über die Jahre des Terrors unter Stalins Schergen. Erst später vernahm man: »Alles gab es – Armut, Elendsschlangen vor den Gefängnissen, Angst, Gedichte, die man nur auswendig kannte, nur im Kopf hatte, und verbrannte Gedichte. Demütigungen und Leid, immer wieder Leid…«

Lew Kopelew nannte ihre Verfolger »entweder zur höchsten Strafe des Vergessens verdammt oder zur schändlichen Haft für alle Zeiten in kleingedruckten Kommentaren des letzten Bandes ihrer Werke verurteilt.«

Heute blühen Achmatowas Gedichte »als Lächeln« auf unseren Lippen. ARTus