Mein Weg zu Swann

ARTus-Kolumne „SO GESEHEN“ Nr. 473

Von ARTus alias Walter G. Goes (Bergen/ Rügen)

Der französische Schriftsteller und Kritiker Marcel Proust wurde vor 139 Jahren in Auteuil geboren.

Am vergangenen Mittwoch las ich im Auftrag des NABU (Naturschutzbund Rügen) unter dem opulenten Blätterdach zweier bewundernswert alt gewordener Blutbuchen im Park des vom Zahn der Zeit reichlich malträtierten Gutshauses Götemitz, das leider nur noch mit Pfadfinderfähigkeiten im flachwelligen Gebiet Südwestrügens zwischen Rambin und Samtens entdeckt werden kann, Dichtungen aus drei Jahrhunderten: Gedichte und Prosatexte „Über die Natur“. Vom jungen Goethe, über den älteren Herzfelde, den immer jung gebliebenen Jandl bis hin zum Satzmagier Proust. Von ihm trug ich eine Passage aus seinem legendär gewordenen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vor, die von einem Weißdornbusch, einer „hier und da verloren stehende(n) Mohnblume“ oder einer müßigen, am Weg zurückgebliebenen Kornblume spricht, „deren Blüten den Hang dekorierten wie die Bordüre eines Teppichs“ oder so gesehen den Bildern auch eigener Erinnerungen lebhaft entsprechen könnten. Ich schleppe den vor knapp dreißig Literaturinteressierten vorgelesenen Text nun schon seit fast vier Jahrzehnten mit mir herum, habe ihn nie vergessen und das trotz des Ekels, den mir einige der vormilitärischen Ausbilder im damaligen Zivilverteidigungslager Glowe bereitet hatten, damals, im Herbst des Jahres 1971, als ich Proust zum ersten Mal las. Ich gehörte zu den fünfzig Studenten, die über den Schlaf von schätzungsweise eintausend Studentinnen zu wachen hatten; auf nächtlichen Streifengängen rund um das mit Stacheldraht gespickte Barackenlager oder -worauf ich mich dann doch noch freuen konnte- eingepfercht in ein klitzekleines Pförtner-Häuschen, in dem wir Jungs, einzeln vergattert für jeweils eine Nacht, bis in den frühen Morgen hinein auf die Stunde der Ablösung zu warten hatten. Für mich kam diese immer viel zu schnell, unterbrach sie doch meine zugegeben heimlich genossene Buchlektüre, von der ich fort an nicht mehr lassen konnte.

Ich hatte das 1926 als Einzelband vom Berliner Verlag Die Schmiede unter dem Titel „Der Weg zu Swann“ herausgegebene, antiquarisch erworbene Buch auf meine von der Leipziger Universität zwangsweise angeordnete Reise nach Rügen mitgenommen; auf eine Reise, die mein weiteres Leben, meine Bindung an Mensch und Landschaft, verändern sollte. Ich versprach mir von der Lektüre einen meinen Seelenzustand tröstenden, ihn wieder ins Lot bringenden Zustand, hoffte auf Zeitverkürzung und Linderung meiner sich schon vor der Reise aufbauenden Pein. Es kam wie erhofft und doch noch weiterführend. Im Kopf die Proust-Sätze, denen meine nächtliche Aufmerksamkeit galt, fand ich tagsüber zu einer so intensiven Sicht auf die Landschaft Rügens, dass ich später hier verwurzeln konnte. Ich wurde ein vom Zauber Rügens Verzauberter und bin es bis heute geblieben. Proust sei Dank! ARTus.

(Erscheint in der Kolumne „So gesehen“ in der Ostseezeitung Rügen 10.7.)