Musik als Zufluchtsort
ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« 603 • 29. Dezember 2012
von Walter G. Goes (Bergen/Rügen)
Ein »Wunder« nennt die Süddeutsche Zeitung das Leben der Pianistin Alice Herz-Sommer. Ihr widmete sie exklusiv am Freitag vor Heiligabend eine ganze Seite (Die Seite Drei) in Worten und Bildern.
Der sorgsam recherchierte Beitrag des Journalisten Thorsten Schmitz wurde umgehend zu meiner Weihnachtsgeschichte, die ich vortrug, wo immer ich dieser Tage zu Gast war. Es gibt aber noch einen weiter zurückreichenden Grund zu dieser ARTus-Jahresend-Kolumne und der hat mit einem Buch zu tun, das ich sehr mag, so sehr, dass ich es immer wieder als Mutmacher an andere Menschen weiterreiche. Als sein Mitautor, und so gesehen für mich erster Hinweisgeber auf die Überlebenskünstlerin Alice Herz-Sommer, muss ein Mitarbeiter der Internationalen Naturschutzakademie Vilm genannt werden, Dr. Reinhard Piechocki.
Er stieß bei seinen Recherchen über Chopin-Interpreten auf die heute wohl älteste Holocaust-Überlebende, auf die am 26. November 1903 in Prag geborene Alice Herz, die jetzt in London lebt und… über das Spielen der 24 Chopin-Etüden die Hölle des Konzentrationslagers Theresienstadt überstand.
Das Vorwort zum Piechocki-Buch hat Alice Herz-Sommer im Juni 2006 selbst verfasst: »Als meiner damals zweiundsiebzigjährigen Mutter im Frühsommer 1942 der Deportationsbefehl zugestellt worden war und ich mich an der Sammelstelle von ihr verabschiedet hatte, für immer, rannte ich ziellos und wie von Sinnen durch die Straßen Prags. Wie war es möglich, eine alte Frau aus ihrer Lebenswelt zu reißen und mit nichts als einem Rucksack bepackt in ein Konzentrationslager zu schicken? Bis heute erinnere ich mich genau, wie ich in tiefster Verzweiflung plötzlich eine innere Stimme hörte: Übe die 24 Etüden, das wird dich retten.
Ich begann, Chopins Etüden einzustudieren – sie gehören zur schwierigsten Klavierliteratur, die jemals geschrieben wurde. Sie waren mein Zufluchtsort und eine bisher nicht gekannte Herausforderung an meine Willenskraft und meine Disziplin. Sie schenkten mir Stunden der Freiheit in einer Welt im Niedergang…«
Worte einer heute 109-Jährigen, einer immer der Kunst und damit dem Wunder des Leben zugewandten Frau. Sätze, die Menschen auch 2013 berühren werden. ARTus