‹Nackt bin ich besser›

Zeitgenossen erinnern sich vor allem an ihre bühnenreifen Auftritte. «Sie hatte ihren Kopf rasiert und zinnoberrot lackiert. Eingehüllt war sie in einen Bogen aus schwarzem Krepppapier», schrieb Margaret Anderson, damals Co-Verlegerin der New Yorker Avantgarde-Zeitschrift «Little Review», über einen ihrer Besuche in der Redaktion: «Sie drehte ein paar Runden, um ihren Schädel von allen Seiten zu präsentieren. ‹Nackt bin ich besser›, sagte sie dann, warf den Umhang von sich und dozierte: ‹Sich seinen Schädel kahl zu rasieren, ist so, als würde man eine neue Liebeserfahrung machen.›»

Eine Performance, wie sie die damals schon 46- jährige Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven liebte: verrückt, provozierend, hintersinnig. (…)

Elsas Biografie liest sich dann auch so verrückt, wie ihre späteren Auftritte es waren. In Swinemünde an der Ostsee am 12. Juli 1874 als Else Hildegard Plötz geboren, neigt sie sich schon als Kind den Musen zu. Sie ist vernarrt in die Bildergeschichten von Wilhelm Busch, tagträumt und besucht später die königlich-preussische Kunstschule. Als die Mutter, wahnsinnig geworden und an Unterleibskrebs erkrankt, stirbt und der jähzornige Vater erneut heiratet, flüchtet die 19-Jährige nach Berlin. Im Variété «Wintergarten» gibt sie eine bewegliche Statue in sogenannten «lebenden Bildern», wie sie damals in Europa sehr beliebt sind, und schuftet kurze Zeit als Revuegirl. Sie ist ständig in Geldnot und getrieben von ihrer Libido. (…)

(…) Eine weltweit erste Retrospektive in New York, ausgerichtet von dem Dada-Experten Francis M. Naumann, setzte Elsa ins rechte Licht. Zeitgleich erschien eine umfassende, beeindruckend recherchierte und schwungvoll geschriebene Monographie. Performancekünstlerin Marina Abramovic urteilt: «Um die äussersten Grenzen von Avantgarde-Performance zu finden, müssen wir nicht nach vorne, sondern zurückschauen. Wenn es um bahnbrechende Kunst und um das Spiel mit den Geschlechtern geht, finden heutige Künstler kein gewagteres Beispiel als die lange vergessene Baroness Elsa.» / NZZ 8.1.2003

Irene Gammel: Baroness Elsa. Gender, dada, and everyday modernity. A cultural biography. Massachusetts Institute of Technology, 2002. 472 S., 90 Illustrationen. Etwas kürzere Fassung auf Deutsch: Irene Gammel: Die Dada-Baroness. Das wilde Leben der Elsa von Freytag-Loringhoven. Edition Ebersbach, 2003. 256 S., Euro 34.-.