Original Nietzsche
ARTus-Kolumne „SO GESEHEN“ Nr. 479
Mit Friedrich Nietzsche (* 15.10.1844) starb am 25.8.1900 einer der bedeutendsten und umstrittensten deutschen Philosophen.
In Friedrich Nietzsches im Juni 1885 beendeter und 1886 auf eigene Kosten gedruckter Schrift »Jenseits von Gut und Böse« steht im vierten Hauptstück der Sprüche und Zwischenspiele der herrlich widerborstige und erstaunlich prophetische Satz: »Der Irrsinn ist bei einzelnen etwas Seltenes, – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.«
Ich halte mich gern bei derlei Funden aus dem Gestrüpp der Nietzsche-Sätze auf. Sie konterkarieren die Tücken des Alltags, erhellen Bosheiten auf originelle Weise und lösen mitunter auch Heiterkeit aus. Um so unbegreiflicher die fast drei Jahrzehnte andauernde Nietzsche-Verdammnis in der DDR.
Vielleicht weckte gerade sie deswegen vehement Begehrlichkeiten unter den Nachkriegsgeborenen im Osten Deutschlands, die Nietzsche-Schriften im Original womöglich gern lesen wollten, aber real nicht erwerben konnten.
Es gab sie nicht! Wenigstens nicht in den Regalen der Buchhandlungen und der öffentlichen Bibliotheken. In Antiquariaten hätte man unter Umständen fündig werden können, falls man »Beziehungen« hatte. Ich hatte sie nicht. Ich war zu jung, zu unerfahren und für derlei Nähe, die man auch kontinuierlich hätte pflegen müssen, gänzlich untauglich.
Der Zufallsfund aus einer Haushaltsauflösung zu Beginn der 70er Jahre löste das Problem und machte mich umgehend zum halbwegs Informierten in Sachen Nietzsche. Die im Alfred Kröner Verlag Leipzig 1930 erschienene Werkausgabe in zwei Bänden war mir in den nachfolgenden Jahren ein nie versiegender Brunnen seltsamster Gedankenkonstrukte.
Zwei Beispiele: »Reife des Mannes: das heißt den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel.« Und: »Man muss Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. « Sätze, die ich heute noch gern zitiere.
Natürlich darf man Nietzsche nicht verharmlosen. Mit nicht wenigen seiner radikalen Sentenzen schmückten sich besonders gern Nazis. Hat ihn das zur Unperson in der DDR gemacht? Zum ideologischen Hauptfeind?
Es war ja so leicht Nietzsche pauschal zu verurteilen, schon weil Franz Mehring 1891 kräftig Munition geliefert hatte. Er erklärte Nietzsche zum Vordenker des »ausbeutenden Großkapitals«. Differenziertere Stimmen, wie die von Gorki, Landauer oder Lunatscharski, unterschlug man. Nietzsche sollte totgeschwiegen und gründlich vergessen werden.
Erst Stephan Hermlins »Deutsches Lesebuch«, veröffentlicht bei Reclam Leipzig 1976, brachte die Wende. Im dort publizierten Nietzsche-Gedicht »An den Mistral« konnte man auch die folgende Zeile nachlesen: »frei – sei unsre Kunst geheißen«. Das war im Jahr der dreisten Ausbürgerung Wolf Biermanns so gesehen ein eklatanter Tabubruch und eine mutige Hommage an den unvergessenen Friedrich Nietzsche. ARTus
Die Kolumne von Walter G. Goes erscheint in der morgigen Ausgabe der Ostsee-Zeitung Rügen