Preußischer Alkoholiker
Die Evolution hat jedes Einzelwesen eingesperrt in sich selbst und es sollte seine lebenslange Gefangenschaft daselbst mit Haltung und Würde ertragen. Jeder stirbt für sich allein!
Der preußische Alkoholiker und Schriftsteller Hans Fallada hat einen seiner bekanntesten Romane so genannt. Am Berliner Gorki-Theater hatte soeben „Der Trinker“ Premiere, in der Regie von Sebastian Hartmann mit Samuel Finzi und Andreas Leupold als den zwei Seelen in der Trinkerbrust und Steve Binetti als musikalischer Blindenführer ins Delirium.
Natürlich gibt es den Trinker wie jeden anderen Menschen doppelt. Im diesem Fall ist es der Säufer und sein innerer Kritiker. Beide sprechen meist gleichzeitig und sind fast immer verschiedener Meinung – darum ist das Zuzweitsein im Alleinsein hier besonders auffällig. Es ist eine großartige Inszenierung, weil sie in jedem Augenblick weiß, dass die Seele kein Festland, sondern ein Ozean ist und die psychische Normalität eine Konvention, ein jederzeit kündbarer Vertrag mit uns selbst.
Was für ein hochprozentiges Fließgleichgewicht aus schwankendem Untergang und Präzision! Ein gut zweistündiges Delirium. Vielleicht sollten alle, die nicht beim Karneval sind, ins Gorki-Theater gehen. Zumal sich die Kritiker den „Trinker“ wie einen schlechten Rausch von der Stirn wischten, vielleicht weil sie aus der strukturellen Trockenheit ihrer Seelen einen Beruf gemacht haben. / Kerstin Decker, taz 15.2.