RISSE

ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 525

» … Und Risse schlitzen jaehlings sich / und narben / Am grauen Leib«.

Diese drei Verszeilen des expressionistischen Dichters August Stramm (1878 – 1915) aus dem 1914 entstandenen Gedicht »Vorfrühling« fielen mir kürzlich in Sehlen auf Rügen ein, wo ich – nicht ganz zufällig – auf den Kunstdrechsler Rüdiger Marquarding aus Wustrow im niedersächsischen Wendland traf und eine kleine Auswahl seiner kostbaren Objekte in Holz bewundern durfte.

Marquarding, für eine knappe Arbeitswoche als anregender, dem Experiment zugeneigter Gast in der Holzwerkstatt von Axel Kasiske tätig, versteht es den »grauen Leib« eines äußerlich womöglich nur Eingeweihten attraktiv erscheinenden Totholz-Stückes auf phantasievolle Art und Weise zu verwandeln, indem er es zum unsere Sinne sensibilisierenden Kunstobjekt kürt. Aufmerksam besieht er sich Maserungen gefällter Bäume, so genannte Jahresringe oder Fraßspuren von Tieren im Holz; überhaupt lässt er sich gern von Spuren anregen und bringt Arbeitstechniken zur Anwendung, die diese nicht ausmerzen sondern als willkommenes Gestaltungselement herausstellen. Da wird gedrechselt, gebohrt, in Sehlen als Besonderheit auch mal sandgestrahlt; partiell geschliffen, gebeizt, poliert und sorgsam montiert.

Risse, so Marquarding, hätten ihn schon immer fasziniert: »Ich fand Risse im Holz schön, sah in ihnen Gestaltungspotentiale, die es nur zu erwecken galt.« Seine Spezialität seit 1993: Trocknungsrisse im Holz mit Silberfüllungen versehen.

Rüdiger Marquarding setzt in aller gebotenen Behutsamkeit und Geduld beste kunsthandwerkliche, ja künstlerisch fein nuancierte und ausbalancierte Akzente im heute interdisziplinär aufgestellten Kanon der angewandten Kunst. Angefangen hat »das Märchen« seiner Erweckung auf dem Werkhof Kukate im östlichen Zipfel Niedersachsens, mitten im aufständischen Wendland mit ganz einfachen kunsthandwerklichen Arbeiten. Von gedrechselten Kreiseln hin zu Dosen, Schalen, Schmuck und freien Gestaltungsobjekten war es ein fast zwangsläufiger Weg, der sich immer nur an besten Vorbildern, national wie international, ausrichtete. Rüdiger Marquarding gilt als Seiteneinsteiger auf seinem Gebiet und schätzt Grenzüberschreitungen. Das hat ihn vor dem Korsett zu strenger handwerklicher Disziplinierung bewahrt und so gesehen immer wieder unbekümmert neue Wege gehen lassen.

Dem Zufall gestalterisch Chancen einräumen, ihn phantasievoll und im Kontext des eigenen handwerklichen Könnens auszuspielen, das ist das Credo des heute nicht nur in den USA, in Kanada, Frankreich und der Schweiz vielbeachteten Tuns von Rüdiger Marquarding, dessen Werk auch auf Rügen Freunde finden dürfte. ARTus

Der 1943 in Wildwiese/Ostpreußen geborene Rüdiger Marquarding verwirklicht unorthodoxe Ideen in seinem kunsthandwerklichen Schaffen. Zeichnung: ARTus