Trotzki lesen
ARTus-Kolumne „SO GESEHEN“ Nr. 480
Wohl über ein Jahr lag der Band »Leo Trotzkij / literatur und revolution« wie Blei in einem Bücherregal des Bücherbahnhofs Lietzow auf Rügen. Lose platziert zwischen Klassikerausgaben von Tolstoi und Turgenjew, worüber ich schon lächeln musste. Später erhielt die seltene, 1968 im Westberliner Gerhardt Verlag erschienene, nach der russischen Erstausgabe von 1924 neu von Eugen Schäfer und Hans von Riesen übersetzte Schrift höhere Weihen. Sie rückte vor in die mit Glasscheiben geschützte Vitrine im Eingangsbereich, die gern von kundigen Bibliophilen näher in Augenschein genommen wird. Es fand sich aber auch dort kein kundiger Trotzki-Leser oder ein Leser, dessen Neugier geweckt werden wollte. Ich selbst folgte in dieser Zeit anderen Fährten und konnte mich nur wundern: das Buch stand bei jedem meiner Besuche in Lietzow immer noch dort.
Warum dieses schon bemerkenswerte Desinteresse? Einem Mann gegenüber, der sich mit einem Schuss Ironie den Namen Trotzki gegeben hatte (einer seiner Aufseher in der Verbannung hieß so!), der in Russland eine Revolution mit eiserner Disziplin und radikaler Härte durchgesetzt hatte, der als Gründer der Roten Armee gilt und ihr oberster Heerführer wurde (bis 1925), Minister des Auswärtigen, für Kriegswesen, Ernährung, Transport und Verlagswesen dazu und noch nach Jahren, 60jährig –im Exil– die um Jahrzehnte jüngere Malerin Frida Kahlo zu verzaubern wusste (deren Kunst heute Massen zu verzaubern weiß!), mehr als nur verbal…
Wissen denn alle, dass Trotzki unter den Massen als legitimer Nachfolger Lenins galt und deswegen von Stalin gehasst wurde? So sehr, dass er Trotzkis Verdienste um die Revolution eifersüchtig abstritt, auszulöschen gedachte wie dessen Leben und das auch fast schaffte?
Bilder, die Trotzki mit Lenin und Stalin zeigten, wurden erstmals zu Lebzeiten Stalins und auf dessen Weisung -nach Lenins Tod- manipuliert, kunstvoll retuschiert. Sie durften auf keine wahrheitsgemäße Geschichte verweisen, die von Stalin und seinen Vasallen gern anders gesehen wurde und das wider besseren Wissens.
Trotzki konnte aus der Geschichte nicht gestrichen werden und wir Nachgeborenen sollten diesen hoch intelligenten Mann, diesen Revolutionär und streitbaren Hitzkopf nicht vergessen. Wir sollten ihn umsichtig und kritisch lesen, denn seine schärfste Waffe, das Wort, hat alle auf ihn gerichtete Waffen geschlagen, so gesehen auch den Eispickel, mit dem er auf Weisung Stalins im August 1940 ermordet wurde.
Franz Fühmann: »Wahrhaftigkeit will… die ganze Wahrheit, denn die Wahrheit ist immer das Ganze, nicht abgewogen, nicht zugemessen, nicht ausgewählt und nicht abgestuft, nicht irgendeinem Dienste stehend, der sie nach Belieben gebraucht …« ARTus