Unter keinem Stern
ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 511
»Erst seit du mich kennst / Kenn ich mich selbst // Einst war mein Körper mir fremd / Wie ein entlegener Erdteil // Und ich wusste von mir / Weder Osten noch Süd // Einsam war meine Schulter / Ein ferner Fels // Bis deine Hand sie berührte: / Da erst fühlte ich mich // Da bekam ich Augen / Und mein Mund eine Form // Ahnte mein Fuß seinen Lauf / Spürte mein Herz seinen Schlag // O wie liebe ich mich / Seit du mich liebst«
Diese vor achtzig Jahren entstandenen Verszeilen, die sich in der Sammlung der »Malaiische(n) Liebeslieder« von Iwan Goll entdecken lassen, sprechen von der Erweckung des eigenen Ichs durch das geliebte Du. Ich verorte sie bis heute gern im Zauber eigenen Erlebens. Nachlesen kann man die Verse zum Beispiel im Auswahlband der Goll-Gedichte, den der Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1973 mit dem Titel »Unter keinem Stern geboren« versah.
Neun Jahre später konnte man mit ein wenig Glück für wenig Geld (neunzig Pfennige!) das von Silvia Schlenstedt edierte »Poesiealbum Nr. 182« erwerben. Bert Papenfuß, der sich langsam aufbauende Tsunami der »Prenzlauer Berg Connection«, damals 26 Jahre jung, war an der Übertragung zweier in französischer Sprache geschriebener Gedichte beteiligt. Für die Umschlagvignette und Innengrafik wurde der in Leipzig lebende Günther Huniat, zuletzt mit einem großen Tafelbild aus der Sammlung der KulturStiftung Rügen in der Orangerie Putbus vertreten, betraut. Ich hüte das von Sammlern gesuchte Poesiealbum wie ein Kleinod, vertiefe mich ansonsten aber eher in die Gedichteauswahl des Aufbau-Verlages, die keineswegs nur Liebesgedichte enthält.
In der legendären, von Kurt Pinthus 1920 erstmals veröffentlichten expressionistischen Lyriksammlung »Menschheitsdämmerung« wollte der Dichter sich wie folgt verstanden sehen: »Iwan Goll hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.« In einem Brief vom 5. Juli 1924 an den Dichter Majakowski bekennt er: »Ich schreibe deutsch und französisch, gehöre aber nur Europa.«
Und tatsächlich ist ja auch der am 29. März 1891 in Sankt Didel (St. Dié) geborene Goll ein Heimatloser, ein »Johann Ohneland« (Jean sans terre), der »mit französischem Herzen, deutschem Geist, jüdischem Blut und einem amerikanischen Pass« seine Heimat in einer grenzüberschreitenden, avantgardistischen Dichtung fand. So gesehen ist Goll ein früh interkulturell agierender Dichter, der mit seinen Antikriegsambitionen und universell gültigen Gedichten einen beispielgebenden Vertreter des humanistischen, auf Verständigung abzielenden Europagedankens abgab.
Man muss den am 27. 2. 1950 in Neuilly-sur-Seine verstorbenen Goll nur wieder mehr lesen: auf Deutsch, Französisch oder Englisch! ARTus