Vom Wagnis
ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 485
Hannah Arendt war die erste Frau, die der Journalist und Publizist Günter Gaus (1929 – 2004) im Oktober 1964 in seinem Interviewpantheon »Zur Person« vorstellte: als »Philosophin«. Er hatte es gut und klug gemeint, erntete aber umgehend Protest von Hannah Arendt. Sie fühle sich keineswegs als Philosophin. Sie habe zwar ab 1924 Philosophie studiert, so in Marburg bei Martin Heidegger, in Freiburg bei Edmund Husserl und ab 1925 in Heidelberg bei Karl Jaspers, aber… ihr Beruf sei die politische Theorie. In der wollen die meisten Philosophen nicht aufgehen (»Kant ist ausgenommen«). Sie, Hannah Arendt, habe Politik immer mit »von der Philosophie ungetrübten Augen« sehen wollen, um Wirklichkeit verstehen zu können. Nur so, unbelastet von der Philosophie, habe sie ihre Schlussfolgerungen ziehen können, nachdenkend, schreibend, lehrend.
Nachdenklichkeit zeichnete auch den Gingster Abend in der Alten Post aus, den Christina Thürmer-Rohr gewohnt souverän ausmaß (sie las 2009 schon einmal als Gast der Gingster Lese). Jetzt zum Thema »Lust des Beginnens«, das der Gedankenwelt Ingeborg Bachmanns und der von Hannah Arendt galt.
Arendts Hinwendung zum Politischen hat sie im Interview mit Gaus, auf das Christina Thürmer-Rohr mehrfach hinwies, mit dem Vorkommnis des Reichstagsbrandes (27. Februar 1933) eng verknüpft, mit den in derselben Nacht erfolgten illegalen Verhaftungen. »Dies war für mich ein unmittelbarer Schock, und von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt. Das heißt, ich war nicht mehr der Meinung, daß man jetzt einfach zusehen kann. Ich habe versucht zu helfen…« Sie ist dabei geschnappt worden, wurde der Gestapo zugeführt, verhört und ist mit einer gehörigen Portion Glück und taktischem Geschick ihrerseits wieder entlassen worden: »Ich kam raus, musste aber illegal über die grüne Grenze…« Die Flucht führte sie bis in die USA, wo sie 1951 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt.
Durch ihre Schrift »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (in Deutschland 1955 publiziert), etablierte sie sich als bedeutende gesellschafts- und politikwissenschaftliche Theoretikerin der Nachkriegszeit.
Im Gaus-Interview sprach sie vom Wagnis des Neubeginns: »Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Wir sind alle darauf angewiesen zu sagen: Herr vergib ihnen, was sie tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis.« So gesehen fast eine Steilvorlage für unser Erinnern an die deutsche Geschichte ab 1989/90, bei der sich die Mehrheit der Menschen einen Neubeginn zutraute, »im Vertrauen auf die Menschen«. ARTus
(Die Kolumne „So gesehen“, Text und Bild von Walter G. Goes, erscheint am Sonnabend in der Ostseezeitung, Ausgabe Rügen)