Wächter sein
ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 528
»Wenn du meine Bilder verstehen willst, musst du Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom lesen. Ich habe aus diesem Roman einen wichtigen Teil meiner Bildstoffe als Anregung gewinnen können.«
Diese zwei Sätze gab mir mein Malerkollege Manfred Kastner (1943 – 1988) ein Jahr vor seinem tragischen Unfalltod auf Jasmund/Rügen mit auf den Weg, als ich ihn nach bedeutsamen Anregern seiner Kunst befragte. Allerdings: So leicht war der im Jahr 1947 bei Suhrkamp in Berlin erstmals erschienene, damals national wie international Furore machende Roman in der DDR nicht aufzutreiben. Die frühen Ausgaben waren praktisch unauffindbar. Wer gute Freunde im Westen hatte besorgte sich eine in der Bundesrepublik erschienene Ausgabe illegal. Die längst überfällige Ost-Ausgabe wurde erst im Jahr der Implosion der DDR – 1989 – als Band 1302 in Reclams Universalbibliothek publiziert. In der Reclam-Variante der DDR übrigens mit einer grafischen Zutat versehen. 17 Holzschnitte von Beate Dietrich gaben einen weiteren, hier bildnerischen Denkanstoß.
Der Roman erschien wie so oft zu spät, um die DDR als rundum vielfacettiges Literatur-Herausgeberland würdigen zu können und viel zu spät für einen souveränen gesellschaftlichen Diskurs, den mündige DDR-Leser sich über Jahrzehnte gewünscht hatten.
Kasacks Roman, in zwei Zyklen 1942 bis 1944 und 1946 bis 1947 in Potsdam geschrieben, berührt zeitlose Fragen nach der Freiheit des Individuums und den Grenzen zwischen Sein und Schein. Er hätte so gesehen wohl zu offensichtliche Bezüge ins Gegenwärtige der DDR-Diktatur herstellen können. Stand er deshalb auf der Liste der unerwünschten Literatur?
Der im Roman von anonymen Instanzen gelenkte und überwachte Mensch, ausgeliefert einer entpersönlichten Handlungsmechanik, übte sich zwar im Leben, lebte es aber weitgehend fremdbestimmt.
Der wache Blick eines Hermann Kasacks auf die Abgründe des jeweils Gegenwärtigen fehlte uns damals. Und er fehlt uns heute wieder. Wir, die wir von einer Krise in die andere taumeln, zunehmend eigener Willensfreiheit beraubt, werden wir nicht neuerlich für dumm verkauft, von im Nebulösen agierenden Instanzen wie Marionetten gelenkt, bewusst abgelenkt (auch vom sinnigen Bücherlesen!) und… wie wir erstaunt vernehmen: in für parlamentarische Demokratien nicht für möglich gehaltenen Dimensionen abgehört, sprich überwacht?
Kasack, der sich im Nachkriegssommer des Jahres 1945 als ein Mensch begriff, der »das Amt eines Wächters« zu übernehmen habe, »der über den kleinen Umkreis hinaus auf den Lauf der Welt zu achten hat…«, sollte uns nachdenklich stimmen.
Es gilt einer zunehmend »sinnentleerten und zynisch gewordenen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, schonungslos und konsequent.« ARTus