Warum mich wegen Harry Rowohlt ein Leben in bitterer Armut erwartet

Karin Breitenfeldt (Lohme)

„Da muß ich doch mal sehen, ob ich überhaupt noch eine Karte für Sie habe“, säuselt die Dame von der Bestell-Hotline und lässt mich in der Leitung zappeln. Jetzt will ich natürlich erst recht und überhaupt zur Rowohlt Lesung, koste es, was es wolle. Das schwant auch der Verkaufsexpertin, die mir prompt umgehend eine einzige verbliebene Karte für einen Sitzplatz (!) in Reihe 1 anbietet. Der Preis ist heiß. Mitleidsvoll werde ich gefragt, ob ich für eine Ermäßigung in Betracht käme. Augenblicklich freue ich mich auf mein Alter, muß aber für den Moment leider verneinen. Nun möchte die Damen wissen, ob ich einen Computer mit Internetanschluss besäße. Wir freuen uns beide über meine zeitgemäße Haushaltsausstattung. Die nächste Quizfrage bezieht sich auf die Nummer meiner Kreditkarte:“Ja, die gesamte Nummer auf Ihrer Karte“, tönt es. Alarm, Alarm! „Nein, anders kriegen wir das jetzt aber nicht mehr hin.“ Reihe 1, Sitz 1 und Harry Rowohlt, heute abend! Alarm totgeschlagen. Auf nach Binz! Erste Hürde genommen: Parkplatz ergattert, Auto  abgestellt. Miles away, miles away… Komme trotzdem noch gut eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn beim Kurhaus an. Da steht er vor der Eingangstür… und raucht! Und ich arme Irre hüpfe forschen Schrittes vorbei in meinem schicken schwarzen grün getupften Rock mit absolut stilecht passendem schwarzen T-Shirt, Ausweis gezückt in der einen Hand, in der anderen Hand das selbst ausgedruckte Billett, um mir wie von der Telefonfee geheißen, irgendwo von irgendwem bestätigen zu lassen, das ich ich bin und heute einer Autorenlesung mit Harry Rowohlt in Binz beiwohnen darf, auf Platz 1 in Reihe 1, jawoll. Eine einsam im Vorraum herumstehende Tante vom Personal findet das wenig bedeutsam und fertigt lediglich einen kleinen Riß in meinen Jagdschein. Plötzlich habe ich viel Zeit. Die Damen vom Büchertisch auch. Ihnen fehlen die Gäste. Mir das Geld. Das mit den Gästen gibt sich nach und nach. Das mit dem Geld nicht. Ich setze mich in einen Sessel neben dem Foyereingang und starre die Barkeeper an. Ihrem Zurückstarren entnehme ich, dass sie meinen Kontostand schon kennen. Wir konzentrieren uns fortan jeder auf seine Weise auf die nach und nach eintrudelnden Besucher. Die erscheinen überwiegend paarweise und sind noch überwiegender Mittelalter. Ein ganz altes Omapaar mit seltsamen Häkelmützen auf dem Kopf nimmt den Fahrstuhl und verschwindet sofort wieder von der Bildfläche als sei es im völlig falschen Film. Beim Anblick des einzigen jungen Mädchens weit und breit  denke ich umgehend an Ken Follets „Säulen der Erde“. Die stützen jetzt höchst unglücklich ein winziges, kariertes Miniröckchen und scheinen irgendwie auf der Suche nach einem Tennisplatz unterwegs zu sein. Bei den Paaren laufen die Männer häufig einen Schritt voraus, vermutlich Westler und Hotelgäste. Die Mamas tragen Rucksäcke oder vereinzelt Gürteltaschen, die Papas Bauch, alle Sonnenbrillen in den Haaren. Wenn sie sich routiniert wortlos trennen, strebt der Mann der Bar zu, die Frau dem Büchertisch, am Stehtisch treffen sie sich wieder. Er trinkt von ihrem Rotwein. Sie legt die erstandenen Bücher für die Enkelkinder zur Genehmigung vor. Eine Riesenfrau im giftgrünen Phantasiekleid erregt allgemeine Aufmerksamkeit. Alle anderen Einzelgängerfrauen bewegen sich gewohnt unsichtbar durch die Reihen. Ich frage mich, wo die einzelnen Männer wohl alle gerade sind. Mir kommt nur einer halbwegs bekannt vor und wie so oft fallen mir Name und Zusammenhang  gerade nicht ein. Dem Kerl geht es genauso. Jetzt starren sich noch zwei Leute mehr an. Bis Herr Grünen-Driest in etwas Hawaii-Hemd-Ähnlichem, sehr Blauem die Bühne betritt und schreit: “Ah, noch zwei Kreistagskollegen.“ Wir geben brav Pfötchen. Sich jetzt vorzustellen wäre genauso idiotisch, wie nach dem Namen zu fragen. Ich verkrümele mich vorsichtshalber in den Saal, schlendere zur Reihe 1, setze mich auf Platz.  1. Prompt naht Platz 2, selbstverständlich „mein“ namenloser Kreistagshinterbänkler, der eigentlich nur den verdächtigen Truppen der FDP zugehören kann und folglich auch noch Zahnarzt oder Anwalt ist. Er beißt nicht. Harry Rowohlt betritt den Saal, stakst steif die Bühne rauf, legt das Jacket ab, sieht genau so aus wie der Penner in der „Lindenstrasse“ in zehn, fünfzehn Jahren aussehen wird, nestelt Buch und loses Blattwerk aus dem Stoffeinkaufsbeutel, liest und erzählt Anekdoten, während er zwei Flaschen Wasser leert und eine ausführliche kommerzielle Pause hindurch Namenszüge in Bücher und auf Tonträger aufbringt, sich mit Mama und Papa für das Urlaubsfoto geduldig ablichten lässt, das Jacket anzieht, die Zugabe vor dem Ende brav und konsequent abliefert, Beutel packt und den Saal verlässt. Sehr unterhaltsam, sehr weise, sehr wessilich, sehr bestimmt. Ein wenig ist der Saal Programm – zu groß, zu vornehm und Harry Rowohlt einsam auf der Bühne ein Stück zu weit auf Distanz vom wohlmeinenden und überwiegend vorgebildeten Publikum. Unbeantwortet die Frage, warum tut der Mensch sich das Tingeln an, wo ihm klar sein muß, dass er die Zeiger seiner Lebensuhr selbst in vielen Jahren viel zu weit vorgespült hat. Ein beeindruckender, ein schöner Abend… den in den Reihen 2 bis 25 hinter mir und auf gänzlich unbesetzten Rängen noch manches Mittelalterpaar oder Scharen einsamer Schachteln hätten verbringen können, hätten sie denn Top-Verkäuferinnen angerufen, um ihnen leichtsinnig komplette Kreditkartennummern auszuplaudern. Dachte auf dem Heimweg jedenfalls schon intensiv darüber nach, ob wohl all mein Geld schon in Richtung Schweiz und Lichtenstein in Strömen abgeflossen sein wird. Ach, hätt’ ich mir nur ein Herz genommen und Harry Rowohlt nach ein paar Tipps für meine bevorstehende Pennerkarriere gefragt!

Lohme, 30. Juli 2010