Wörter von Sartre

ARTus-Kolumne „SO GESEHEN“ Nr. 471

Den 105. Geburtstag des Philosophen und Schriftstellers Jean-Paul Sartre (1905 – 1980), den Herbert Marcuse „das Gewissen der Welt“ nannte, konnte man am vergangenen Montag begehen.

„Die Wörter“ von Sartre fielen mir zwei Tage nach seinem 105. Geburtstag in Lietzow auf Rügen zu. Genauer gesagt aus den Händen der den Bücherbahnhof beseelenden Frau Wolff, die immer wieder Antiquariatsfreunde mit respektablen Zusammenstellungen überrascht. Nun, endlich, bekam ich die lange gesuchte erste Buch-Ausgabe, die 1965 in der Übersetzung von Hans Mayer zeitgleich bei Rowohlt im Westen und im Ostberliner Aufbau Verlag erschien. So gesehen eine fast gesamtdeutsche Ausgabe, deren Zustandekommen dem 1964 verliehenen, von Sartre aber nicht angenommenen Nobelpreis zu verdanken war. Zweifellos eine Rarität, die mit dem ernüchternden Fazit des Autors auf der vorletzten Seite endet: „Nunmehr kenne ich unsere Ohnmacht. Trotzdem schreibe ich Bücher und werde ich Bücher schreiben; das ist nötig; das ist trotz allem nützlich. Die Kultur vermag nichts und niemanden zu erretten, sie rechtfertigt auch nicht. Aber sie ist ein Erzeugnis des Menschen, worin er sich projiziert und wieder erkennt; allein dieser kritische Spiegel gibt ihm sein eigenes Bild.“  Sartre schrieb Die Wörter 1954 und arbeitete sie vor der Veröffentlichung zehn Jahre später um. Er spiegelt in dieser brillanten Glosse auf den Umgang mit dem Lesen und Schreiben die Erinnerung an seine Kindheit in der großbürgerlichen Familie des Großvaters, der übrigens ein Bruder von Albert Schweitzer war. Jean-Paul Sartres verzweigtes Werk als Philosoph und Literat blieb den engstirnigen DDR-Kulturgurus über Jahrzehnte suspekt. Recht so, könnte man urteilen, war er es doch, der mit seinen Schriften als undogmatischer Marxist den Dogmatikern unbeeindruckt von rigiden Störmanövern die Leviten las. Das musste Auswirkungen auf die Veröffentlichungspraxis im Osten haben. Konnte Sartre noch im November 1948 in der Ost-Berliner „Möwe“, dem späteren Club der Film- und Theaterschaffenden der DDR, zum Thema „Was ist der Existentialismus?« referieren, verhärteten sich nur ein Jahr später die Fronten. Die Rede war von „Dekadenz“, vom „subjektiven Idealismus“ und weit schlimmer noch vom „Existentialismus als neofaschistischer Nachkriegsmode“ (Ernst Niekisch). Sartre wurde zum ideologischen Feind abgestempelt, seine Worte in das unterste Schließfach des für die Massen Unverständlichen verbannt. Den ersten Sartre-Text, den Leser aus einem DDR-Verlag lesen konnten, war Wider das Unrecht. Die Affäre Henri Martin, erschienen 1955 bei Volk und Welt. Es folgten beim Aufbau Verlag 1956 Die Fliegen, Die ehrbare Dirne und Nekrassow. Nach Die Wörter musste man auf weitere Sartre-Texte fast zwanzig Jahre warten, was beim über West-Medien informierten Ost-Leser nur Trotz erzeugte.

Wörter unterwandern und überwinden Grenzen. Das begreifen Diktaturen/Diktatoren nie.   ARTus

(Aus der Serie »So gesehen«, Ostsee-Zeitung Rügen, von Walter G. Goes)