Wulf Kirsten auf Rügen

ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 524

Lutz Seiler hat 2009, anlässlich einer Nachauflage von Heft 4 der in der DDR ab Oktober 1967 verlegten und von Bernd Jentzsch herausgegebenen Poesiealbum-Reihe, den in Weimar lebenden Autor Wulf Kirsten einen »Sprach-Erforscher« genannt, »in dessen Versen das deutschsprachige Gedicht einen selbständigen und unverwechselbaren Ausdruck gefunden hat«.

Auch zitiert er Karl-Markus Gauß, der Kirsten »Chronist des verschollenen Alltags« nennt, der »penibel notiert, was seit seiner Kindheit alles an Gerätschaften und Gewohnheiten verschwunden ist«, der „Unterdrückung, Knechtschaft, Gewalt jener Kindheitsjahre nicht verschweigt« und dabei »im Abgelegenen, scheinbar Gleichgeschalteten die Spuren von Trotz, Revolte, Widerständigkeit aufspürt«.

Ich besitze das Poesiealbum von 1968, das nach den Alben über Brecht, Majakowski und Heine den damals 33jährigen Lyriker vorstellte, dessen Gedichte nach den Worten des Herausgebers »genaue Beobachtungsgabe« auszeichnet. In ihnen sei die Rede vom »Ärger mit anachronistischen Winterschläfern und der Vorbereitung des neuen Jahrtausends«.

Das Album hat so gesehen das historisch bewegte 68er Jahr im Osten eingeläutet, allerdings mit einer Stimme, die eher durch ihr an Huchel und Bobrowski geschultes Anderssein aufhorchen ließ als durch rebellische Töne. Ob ich damals mit meinen 17 Jahren die Wortfunde wahrnahm, die »nach der erde kühlen atem« schmeckten, wage ich zu bezweifeln. Augenscheinlich lebte ich in anderen Ausrichtungen. Allerdings blieb das Album im Bestand mir wichtiger Erwerbungen, auch die sich anschließende »auswahl 68«-Broschur, die »Neue Lyrik – Neue Namen« versprach. Kirsten findet sich dort in der Nachbarschaft von Günter Kunert, der dem real rebellierenden Dutschke ein Gedicht widmet und von Volker Braun, welcher dem kalten Zorn der Aufständischen in der anderen Republik seine Stimme gibt. Mit diesen Gedichten war für mich schneller »ins Gespräch zu kommen«. Der Reichtum der Kirsten-Texte erschloss sich mir erst nach Jahren, dann aber um so tiefer.

Wer wollte, konnte Wulf Kirsten auf einer interessanten Podiumsdiskussion am vergangenen Sonnabend in Swantow erleben. Dort ging es um die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des 1982 in der DDR erschienenen »Swantow«-Buches von Hanns Cibulka, um die beklemmende Aktualität seiner vorausschauenden Aussagen über die Gefahren des Atoms.

Kirsten, ein enger Freund Cibulkas und wie dieser früh mit dem Wort gegen »die Destruktivkräfte einer rücksichtslosen Industrialisierung« aktiv, sprach vielen Besuchern aus dem Herzen, als er seinen Wunsch nach Umsetzung der Cibulka-Mahnrufe vortrug.

Cibulka: „Wenn man als Leser eine Wahrheit gefunden hat, so muß man sie auch annehmen“. Und danach handeln! ARTus

Der vielfach preisgekrönte Lyriker, Essayist und Herausgeber Wulf Kirsten, geboren am 21.Juni 1934 in Klipphausen bei Meißen, weilte dieser Tage auf Rügen. Zeichnung: ARTus